Blick aus der Zukunft

Samengärtnerei

Auf einem Tisch waren viele Schälchen aufgestellt mit Samenkörnern. Dazu jeweils ein Schild, um welche Art und Sorte es sich handelte, die Herkunft und Jahr, sowie der Name der/des Nachzüchters. Hinter dem Tisch saßen zwei Damen. Eine von ihnen kramte unter dem Tisch in einem Karton.
„Sag mal, Erika, wo haben wir denn die Mangoldsaat?“
„Die habe ich schon hingestellt neben das Poster“ antwortete die andere. Auf diesem Poster waren imposante, mannshohe Blütenträger des Mangold zu sehen, wie sie sich im zweiten Jahr entwickeln – wenn man ihn nicht vorher erntet. Die unscheinbaren Blütchen waren reich besucht von Bienen, die keineswegs nur „bunte Blumen“ anfliegen. Die Stämme waren armdick, man brauchte schon eine Machete, um sie zu fällen.
„Das ist ja toll. So etwas habe ich noch nie gesehen!“ wunderte sich eine Besucherin.
„Wir freuen uns auch immer wieder daran.“ sagte Erika. „Früher war es normal, dass in den Hausgärten eigene Saat gezogen und mit der Nachbarin getauscht wurde. Doch mit der Entfremdung von der Natur und seit Samengärtnerei von großen Konzernen monopolisiert wurde, kennen wir das nicht mehr. Gemüse kennen wir aus dem Supermarkt. Aber wie sie wachsen, wissen wir nicht.
Kennen Sie zum Beispiel das hier?“ fragte sie und wies auf ein anderes Poster.
Es zeigte eine weiß bis zartrosa blühende Pflanze, einen krautigen, üppig verzweigten Busch, der bis zur Brust reichte.
„Nein, was ist das?“
„Sehen Sie mal die kleine rote Knolle, die hier unten aus der Erde kommt. Erinnert die Sie nicht an irgendwas?“
„Das sieht aus wie ein Radieschen.“
„Genau,“ sagte Erika „das ist auch ein Radieschen, nur jetzt hundert Mal so groß. Hier“ – sie zeigte auf das Bild – „sind schon die ersten Schoten zu sehen, wo sich die Samen ausbilden. Die sind dann wieder ganz klein. So sehen wir den natürlichen Kreislauf, einen Zyklus. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, dieses Wachstum ist so wunderbar. Das finde ich schön. Es hat fast etwas Heiliges.“ Ihre Stimme senkte sich. Man sah ihr eine gewisse Ehrfurcht an.
„Wenn Sie möchten, können Sie es selbst ausprobieren. Hier sind ein paar Radies-Samen. Die reifen schon im ersten Jahr. Ist deshalb auch interessant für Kinder.“ Sie reichte der Besucherin ein kleines Tütchen.
Ein anderer Besucher trat hinzu. „Warum machen Sie das Ganze denn?“
„Vor allem weil es schön und interessant ist. Es lehrt und übt, genau hinzuschauen und das Wunder zu beobachten. Wir lernen die Pflanzen kennen und lauschen gewissermaßen dem ‚Gespräch’, das sie mit der Lebenswelt um sich herum führt. Es ist ein unvergleichliches Gefühl, später das Gemüse zu essen im Bewußtsein: Das ist durch meine Hände gegangen.“ 
Nun ergriff die andere Saatgut-Dame das Wort.
„Der Hintergrund ist schon sehr ernst. Es sind unzählige Sorten und genetische Vielfalt verloren gegangen. Der Speisezettel ist dadurch eintöniger geworden und die Anpassung an den Klimawandel erschwert. Darüber hinaus sind aber auch das Wissen und Fertigkeiten, die Ausrüstungsgegenstände und die praktisch erprobten Arbeitsabläufe verloren gegangen. Ein wenig kann man davon im Freilichtmuseum von Molfsee erahnen. Aber die kulturellen Verluste bleiben. Das alles sind ebenfalls Aspekte von Biodiversität.“
„Wieso ist das alles verloren gegangen?“
„Nun ja, der Hausgarten früher war meist uns Frauen überlassen. Es gehörte zu den selbstverständlichen Tätigkeiten, zu säen, zu pflanzen, zu pflegen, zu ernten – und die besten Pflanzen übrig zu lassen, aus denen das Saatgut des nächsten Jahres gewonnen wurde. Saatgut konnte man ja schließlich nicht im Laden kaufen. So machten das die Frauen in allen Dörfern, und deshalb ist in jedem Dorf durch Nachbau jeweils eine lokale, angepasste Sorte entstanden, die mit den Nachbardörfen getauscht wurde. Teilweise klingt das noch in den alten Sortennamen an wie z.B. ‚Teltower Rübchen‘. 
Heute ist Saatgut zu einem quasi industriellen Produkt geworden, in Labors gezüchtet oder zusammengebaut wie die Hybriden, gentechnisch verändert, mit Patenten und anderen Gesetzen vor Nachbau ‚geschützt’ und privatisiert. Meist wird das Saatgut auf großen, spezialisierten und klimatisch günstig gelegenen Betrieben vermehrt und anschließend in alle Welt verkauft, wo sehr wahrscheinlich völlig andere Bedingungen herrschen. Das genetische Material ist zu 95% verschwunden.“ Sie seufzte. Nach eine Pause fuhr sie fort:
„Sie haben vielleicht von dem Bananenproblem gehört? Es gibt weltweit praktisch nur eine einzige Sorte, die gehandelt wird, Cavendish. Ein Pilz hat sie befallen, und weil es keine genetischen Reserven gibt – die Bananenpflanzen sind allesamt Klone – ist der gesamte Welt-Bananen-Bestand gefährdet.
Indem wir unser eigenes Saatgut vermehren und züchten, sorgen wir für unsere Unabhängigkeit und Widerstandsfähigkeit (‚Resilienz’). Und natürlich für den Erhalt der Sorten. Wir arbeiten da eng mit dem Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzen e.V. zusammen.“ 
„Und wie machen Sie das praktisch?“
„Oh, das fängt schon damit an, dass wir uns absprechen, wer welche Sorten vermehrt. Das geht nämlich nicht alles nebeneinander, das würde sich alles miteinander verkreuzen und vermischen. Ich bin aus Treufeld und baue Weißkohl an. Die Kohlsorten sind botanisch eine einzige Art. Ein Rotkohl könnte also einen Weißkohl bestäuben. Deshalb werden andere Kohlsorten in Görnitz und hinter Breitenstein gezogen. Wir haben auch durch Folien und Netze geschützte Bereiche. 
Eine weitere Maßnahme ist der zeitliche Wechsel. Da wir für die Auslese ohnehin im großen Überschuß anbauen müssen, reicht das geerntete Saatgut für mehrere Jahre. In den Jahren dazwischen kann also eine andere Sorte vermehrt werden.“
„Das ist ja unglaublich. Eine eigene Wissenschaft!“ rief der Besucher aus.
Nun plauderten die Damen aus dem Nähkästchen. Vom Anbau, von der Auslese der besten Pflanzen, von der heiklen Ernte (es dürfen keine Samen verloren gehen), von der Trocknung, Lagerung und Aufbereitung.
„Dafür verwenden wir solche Siebe.“ Sie zeigte einen ganzen Stapel von Holzrandsieben, alle mit unterschiedlicher Maschenweite von grob bis hin zu ‚Puderzuckersieben‘. „Wußten Sie, dass manche Samen so fein sind, dass 30000 Körnchen auf ein Gramm kommen?“
„Eine besondere Aufgabe ist die Überwinterung der zweijährigen Arten. Diese wachsen im ersten Jahr nur vegetativ, erst im zweiten Jahr bilden sie die langen Stängel mit Blüten und Samen. Das ist schon eine Herausforderung!“
„Machen Sie doch mit, wenn Sie daran Freude haben!“ sagte die andere. „Ein Hausgarten reicht schon. Und bei der gemeinsamen Arbeit merken Sie schnell, wie der Hase läuft.“
„Hm, ja. Ich werde darüber nachdenken. Vielen Dank!“