Blick aus der Zukunft

Ein kleiner Roman, wie es wird gewesen sein können ...

Die Erfolgsgeschichte

Der große Tag brach an. Trotz Wochenende stand ich schon um sieben Uhr auf, denn die Vorbereitungen sollten um acht Uhr beginnen. Genau genommen hatten die Vorbereitungen schon vor etlichen Monaten begonnen, aber besonders heute sollte alles glatt verlaufen.
Das Wetter war ein Glücksfall, ein richtiger Altweibersommer. Die Herbstfärbung setzt zwar erst viel später ein, doch die Trockenheit ließ das Laub vielerorts bereits vor Wochen gelb werden. Der Himmel leuchtete blau, leichter Dunst erzeugte einen merkwürdig grellen Lichteindruck. 
Oder war es Staub? Die trockenen Böden, die nach der Ernte umgebrochen und aufgerissen werden,  verwehen über weite Strecken.
Ich verließ das Haus und machte mich auf den Weg. Viele Häuser waren geschmückt zu diesem Tag mit bunten Wimpeln, Luftballons und Fototafeln mit unserem Emblem: dem Spaten voll Erde, kräftig durchwurzelt mit einer Fülle von Kräutern und Gräsern, auf denen bunte Insekten saßen. Wer genau hinsah, konnte noch zwei Regenwürmer entdecken. Auf dieses Emblem waren wir stolz, besonders an dem heutigen Tag! Denn das war nicht nur ein nettes Bild, sondern das war der Anspruch, mit dem wir vor zehn Jahren angetreten waren. 
Ich sah zu dem Haus hoch, in das kürzlich unsere neuen Nachbarn Torsten und Silke eingezogen waren. Sie hatten sich bei „Wohnungen für Grebin“ beteiligt, und es war bis kurz vorher unklar, ob sie den Zuschlag bekommen würden. Ich hatte mitgefiebert, denn nette Leute in der näheren Nachbarschaft sind so wichtig. Wo sie nur stecken? Sie wollten doch mitkommen. Wahrscheinlich haben sie noch Stress mit den Kindern. Na, sie werden den Weg schon allein finden…
Im Geiste rasterte ich im Weitergehen die Gebäude ab, die zu „Wohnungen für Grebin“ gehörten. Das gibt es jetzt seit sechs Jahren, ist durch Höhen und Tiefen gegangen und scheint sich allmählich zu stabilisieren. Die Details kenne ich nicht so genau, weil ich damals im Jahr 2026 in einer anderen Arbeitsgruppe der Genossenschaft voll beschäftigt war. Torsten und Silke können mir das ja nachher in der Ausstellung erklären.
Ich erreichte das Festgelände. Hinter dem Sport- und Gemeinschaftshaus war ein großes Zelt errichtet, das wir heute vermutlich nicht brauchen würden. Davor stand Brinkmanns Lieferwagen mit geöffneten Türen. 
„Gestern frisch geerntet!“ rief er über die Schulter zurück, während er mit der Schubkarre um die Hausecke kam und auf den Wagen zusteuerte, Nachschub zu holen.
„Moin, Peer“ grüßte ich, „alles klar?“
„Jo, die haben erst mal genug Arbeit!“ grinste er.
„Hast du Behälter für die Putzabfälle hingestellt?“
„Klar, die hole ich nachher ab, wenn euch drinnen die Köpfe rauchen. Bis dann!“ Er knallte die Türen zu und rauschte in einer Staubwolke ab.
Er war kaum vom Hof, da klingelte das Handy: „Ach übrigens, das Brot bringe ich nachher mit, wenn ich die Komposttonnen abhole. Sorry!“ „Wie viel doch schief gehen kann“, seufzte ich. 
Mit Peer hatte ich schon manchen Kampf ausgefochten und damit meine ich nicht solche Kleinigkeiten. Peer ist einer unserer Landwirte, genau genommen der erste. Und das war auch der Grund für die Kämpfe. Die anderen hatten es leichter. Sie wussten dann ja, was auf sie zukam. Aber Peer nicht. 
Eigentlich hieß er Peter, doch das „t“ ist ihm ausgefallen wie Haare vom Kopf: Man merkt es nicht, auf einmal sind sie weg. Nun rutscht die ewige Mütze auf seinem runden Schädel. Die Furchen in seinem Gesicht zeugen von einem anstrengenden Leben – und manchmal von einem hintergründigen Humor.
Ich ging ums Haus. In einer Ecke des Zeltes war ein Arbeitsbereich aufgebaut: hüfthohe Tische, Messer, Schneidbretter und große, leere Gefäße. Daneben noch größere Bütten gefüllt mit Kartoffeln, Möhren, Tomaten, Kohlrabi, Sellerie und Porree.
Drei Frauen und ein Mann waren damit beschäftigt, das Ensemble so zu arrangieren, dass die Arbeit gut von den Händen ging.
„Wo ist Jürgen?“ fragte ich. 
„Keine Ahnung. Er wollte einen guten Gemüsehobel mitbringen, den brauchen wir dringend.“
Ich zückte das Handy. „Moin, Jürgen. Was ist los? Gibt’s Probleme?“
„Im Gegenteil“ beruhigte er mich. „Ich bin gerade im Grebiner Krug und bringe die Profi-Küchenmaschine mit. Bin gleich bei euch.“
„Schafft ihr das zu fünft oder soll ich noch Hilfe organisieren?“ fragte ich in die Runde.
„Mit dem ‚Energiesklaven‘ von Jürgen dürfte es wohl kein Problem werden.“ merkte Bertold süffisant an. Na, da hatte er wohl mit spitzen Fingern ein Argument aus dem Arsenal der Energie-AG gezückt. Ich überhörte die Bemerkung. Ich fand die Idee von Jürgen genial. Und mehr noch gefiel mir, ja bewunderte ich, die Selbstverständlichkeit und Bereitschaft zur Hilfe – und darum zu bitten. 
„Spannt noch das Flatterband um eure Tische, dass euch die Leute nicht dazwischen kommen“ sagte ich nur. Diese gemeinsame Arbeit sollte durchaus sichtbar sein. Es ist gut, wenn die Besucher sehen, welchen Vorlauf das Essen hat. Ein Helfer wäre sicher auch willkommen, aber stören sollen die Leute nicht.
Acht Meter entfernt war etwas anderes aufgebaut. Drei Bütten mit Äpfeln von der Streuobstwiese oben am Mühlenberg standen dort. Daneben eine Bütt mit Wasser und viele leere Eimer. Auf drei Tischen lagen Schneidbretter und Messer aufgedeckt wie zu einer rustikalen Brotzeit. 
„Was ist das?“ fragte eine Stimme von hinten. Ich wendete mich und sah die ersten Besucher kommen. Ein Mädchen wies mit ausgestrecktem Arm auf ein ihr unbekanntes Gerät.
„Ich zeig es dir gern. Komm, ich hebe dich hoch.“ sagte ich und ließ die Kleine in den Trichter des Schnitzelwerkes schauen. 
„Da kommen die Äpfel hinein. Und wenn man an dieser Kurbel dreht“ – ich machte eine halbe Umdrehung – „dann drehen sich die Walzen mit den großen Zähnen. Siehst du?“ 
„Au, da darf man aber nicht die Finger rein kriegen!“
„Nein bloß nicht, nur die Äpfel werden klein geschnitzelt.“
Auch die Presse daneben erweckte ihre Neugier.
„Du kannst nachher hier selber Saft machen, wenn du möchtest“ vertröstete ich sie.

Es war zwanzig nach acht. Jetzt nach Herbstanfang stand die Sonne noch ziemlich niedrig und arbeitete daran, die Nachtkühle zu vertreiben. Besonders gemütlich war es im schattigen Zelt noch nicht für die Küchengruppe.
Ich trat ins Haus. Der Duft von frischen Laubzweigen wehte mir entgegen. Sie waren an den Wänden so befestigt, dass der Eindruck entstand, als wäre man im Wald. Wie eine Lichtung tat sich am Ende des Ganges der runde Saal auf. Durch seine großen Fenster fiel die flache Sonne auf den Erntedankschmuck und hob ihn gleichsam auf eine Bühne. Es war ein wunderschöner Anblick. Ich war allein im Raum. Mir schien, als hätte er in diesem Moment etwas Sakrales. 
Ja, wir begingen ein Fest, ein Fest des Respektes vor der Natur und ihren Gaben. Ein Fest des Dankes und der Rückbesinnung, dass wir Menschen ein Teil von ihr sind.  
Auf dem Gabentisch lag eine schier unermessliche Fülle von verschiedenem Obst, Gemüse, Getreide samt ihrer verarbeiteten Formen. Alle Herbstblumen der Gemeinde rahmten diese Fülle ein und steigerten ihre Üppigkeit noch um ein Vielfaches. Der Tisch war bereitet, die Menschen zu bewirten – so dachte ich leise. Und mir fiel eine Lehre aus Kindertagen ein: „Ein Landwirt ist jemand, der sein Land bewirtet.“ Als Kind war das leicht zu verstehen. 
Maja schrieb gerade das Tagesprogramm ans Flipchart. 

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