Teil 2: Handlungsmöglichkeiten

soziale und kulturelle Aspekte

Dieser Abschnitt vertieft soziale Aspekte, die nach meiner Ansicht in der öffentlichen Debatte viel zu kurz kommen.
Eine Zusammenfassung können Sie hier als Video ansehen (15 Minuten).
Wenn Ihnen dieser Exkurs etwas zu weit ist, so können Sie ihn gern überspringen und mit dem Abschnitt "soziale Praktiken" fortsetzen, der sich wieder konkret mit Grebin befasst.

Manchmal ist im Zusammenhang von Klima, Umwelt, Migration usw. von Ursachenbekämpfung die Rede. In der Tat liegt da ein großes Potential.  
Doch welches sind die Ursachen für Klimawandel und Umweltzerstörung?
Üblicherweise sprechen wir von CO2-Emissionen, fossilen Energieträgern oder Verbrennungsmotoren, also äußeren Dingen. Entsprechend scheint uns die Lösung in Erneuerbaren Energien und Elektroautos zu liegen.
Doch in Wirklichkeit sind das keine Ursachen, sondern selbst Wirkungen von weiter zurückliegenden Ursachen. Denn CO2-Emissionen oder Bodenzerstörung passieren nicht von allein. Sie sind uns nicht „zugestoßen“, sondern sie werden von Menschen gemacht, von Wirtschaftsunternehmen, Politikern, von uns. 
Soziale und mentale Strukturen befördern ein bestimmtes Verhalten. Dazu gehören wirtschaftliche und politische Strukturen, kulturelle und solche des Bildungswesens, Gesetze und Vorschriften aller Art, Beziehungen auf allen Ebenen von Familien über Firmenkollegen bis hin zu föderalen und internationalen. Soziale und mentale Strukturen sind also allgegenwärtig. Und sie steuern unser Verhalten. 
Einige Beispiele aus dem Alltag:
    • Unsere Art, Weihnachten zu feiern, begründet eine wirtschaftliche Umsatzspitze, die sich über globalisierte Lieferketten in der ganzen Welt auswirkt. 
    • Unsere Vorstellung von häuslicher Hygiene begründet die Produktion und Einsatz eines großen Arsenals von Chemikalien („es muss doch sauber sein!“). 
    • Unsere Angewohnheit, mehrmals im Jahr Flugreisen zu unternehmen, setzt viel CO2 in der Höhe frei.
    • Unsere Vorstellung von „privat“ versus „staatlich“ verstellt uns den Blick auf kooperative Möglichkeiten.
    • Werbung und Lobbyismus verleiten uns gelegentlich, sogar gegen unsere eigenen Interessen zu handeln.
    • Überkommene Begriffe und Leitbilder wie z.B. „Leistung“, „Wachstum“, „Effizienz“ usw. sind veraltet, werden nicht hinterfragt und führen deshalb zu einer nicht mehr zeitgemäßen Politik. Sie müssten neu gefüllt oder ersetzt werden. Siehe Abschnitt Sprache und Begriffe.

Ökologisch schädliches Verhalten wird durch kulturelle, gewohnheitsmäßige und soziale Normen gefördert. Anders gesagt: die eigentlichen Ursachen sind gesellschaftlicher Natur. 
Wenn gesellschaftliche Ursachen verändert werden, kann das massive Verbesserungen hinsichtlich Klima, Ökologie, gutes (Zusammen)Leben und politischer Stabilität erzeugen. Und zwar nicht nur global, sondern auch hier vor Ort.

Potential: Veränderung sozialer und kultureller Ursachen

Das problemlösende Potential von sozialen Veränderungen ist vermutlich weit größer als das von technischen Lösungen. Ein Beispiel: Bildung für Frauen in Afrika ist oft das beste Mittel für weniger Kinder, denn dadurch wird die Einstellung und Selbstbewußtsein der Frauen verändert. Reine Verhütungsmittel ohne veränderte Einstellung würden diesen Effekt nicht erreichen.
Wirtschaftswachstum, extreme Mobilität und Hyper-Konsum sind mächtige Triebkräfte. 
Es geht also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „falsche“ Technik, sondern darum, das Streben nach immer mehr Konsum und fortgesetzter Steigerung zu beenden. 
Es ist eine Illusion zu glauben, Technik allein würde ein Problem lösen, das durch weiterhin fortbestehende gesellschaftliche Ursachen entstanden ist. So lange die Steigerungslogik (mehr Wachstum, mehr Umsatz, mehr Konsum, mehr Likes usw.) besteht, werden technische Ansätze genau dieser Logik folgen und Steigerung von Konsum, Verbrauch und Zerstörung bewirken.
Es gilt das bekannte Diktum von Albert Einstein:

„Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen,
die zu seiner Entstehung beigetragen haben. “

Potential: anders denken

siehe z.B. Maja Göpel (2020): Unsere Welt neu denken.
Oder: Harald Welzer (2019): Alles könnte anders sein.

Erneuerbare Energien und Elektroautos werden also nur dann ein Lösungsbeitrag sein, wenn sie sich in den Dienst von weniger Konsum und Mobilität stellen lassen, wenn wir damit keine weiteren Steigerungen von Wirtschaftsleistung und materiellem Wohlstand anstreben. Derzeit ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Die kulturelle Wertsetzung des „immer mehr“ muss abgelöst werden durch ein „genug“.

Potential: zufrieden sein, genug sein lassen

Anders denken, zufrieden sein – wie soll das denn plötzlich gehen, auf welchen Schalter muss ich da drücken?
Natürlich gibt es nicht diesen Schalter. Aber machen Sie sich klar, dass Ihr bewusstes Denken und Handeln auf einer Unterlage von unbewußten Werten, Gewohnheiten, Traditionen, Erwartungen, Rollenspielen, Begriffen oder Sprache ruhen. Diese inneren Strukturen sind wertvoll, sie geben uns Halt und Orientierung und begründen gesellschaftlichen Zusammenhalt. 
Wenn sich die Bedingungen jedoch ändern, so können uns die inneren Strukturen hinderlich sein. Sie binden uns an etwas Vergehendes oder schon Vergangenes. Lösungen und Verhaltensweisen, die unter alten Bedingungen gut waren, sind es unter neuen Verhältnissen nicht mehr. Ein Beispiel: Für einen Säugling ist Muttermilch die beste Ernährung. Wenn er größer wird, ein Kleinkind, ist andere Nahrung angemessen. Die gute Verhaltensweise des Stillens ist dann nicht mehr angesagt.
Ähnliches gilt auch bei gesellschaftlicher Entwicklung. Es gab Zeiten, da hieß es: „Wenn die Sklaverei abgeschafft wird, dann bricht unsere Wirtschaft zusammen. Wer soll dann noch auf den Feldern arbeiten?“ Bekanntlich ist die Wirtschaft nicht zusammengebrochen und die Menschheit hat einen moralischen Fortschritt gemacht. Es gab Zeiten, da hieß es: „Wenn Frauen das Wahlrecht erhalten, wird der Staat unregierbar und ein großes Chaos entsteht. Frauen können nicht logisch urteilen.“ Die Staaten sind nicht zugrunde gegangen, sondern haben durch die Beteiligung der Frauen eine Bereicherung erfahren.
Im 21. Jahrhundert sind andere Lösungen erforderlich als im 20. Jh. oder gar noch früher, denn wir stehen vor fundamental neuen Problemen.
Meine These lautet: 

Die wichtigsten Lösungen für dieses Jahrhundert sind soziale Innovationen.

Potential: soziale Erfindungen (statt nur Technik-Fokus)

weiterlesen: Sprache und Begriffe