Wo sind die Menschen geblieben?

 
In den ersten Semestern meines Biologiestudiums fragte ich meinen Professor: 
"Die Biologie will doch die Wissenschaft vom Leben sein. Was ist denn nun das Leben?"
Er antwortete: "Das müssen Sie die Philosophen fragen!"
 
Diese Anekdote zeigt sehr schön ein Dilemma, das unsere Wissenschaften begleitet.
Die Biologie kann sehr viel über Funktionen, Strukturen und die notwendigen Bedingungen von physiologischen
Lebewesen erzählen. Zum Phänomen "Leben" selbst aber schweigt sie. Was das Leben dem Wesen nach ist, weiß sie nicht
und forscht sie nicht, denn dafür fehlen ihr die Begriffe.
Ähnliches passiert, wenn sie sagen sollte, was der Mensch ist.
Sie kann dagegen unendlich viel über kleinste Details vorwiegend des menschlichen Körpers sagen. Unser Blick 
wird von den Organen über verschiedene Gewebe bis hin zu den Zellen und komplizierten Molekülen geführt.
Doch den Menschen sehen wir im Mikroskop nicht. Er kommt uns bei dieser Reise immer mehr abhanden.

Wo sind die Menschen geblieben?

Auch in den Sozialwissenschaften ist er kaum mehr wahrnehmbar.
Nehmen wir beispielsweise die Wirtschaftswissenschaften.
Nach meiner sehr bodenständigen Auffassung soll die Wirtschaft nützliche und angenehme Güter und Leistungen 
für die Menschen bereitstellen. 
Für die Menschen!
Nun suchen Sie einmal in einem beliebigen Standardwerk der Wirtschaftswissenschaft nach dem Begriff "Mensch".
Sie werden kaum fündig werden. Das ist keine bloße Rhetorik: versuchen Sie es wirklich mal!
Wenn Sie kein Fachbuch zur Hand haben, nehmen Sie ersatzweise eine beliebige Tageszeitung und forschen dort nach
dem Begriff "Mensch". 
Sie werden jedoch eine Fülle von anderen Begriffen finden, die scheinbar den des Menschen ersetzen. Es sind Begriffe
wie Verbraucher, Produzent, Steuerzahler, Arbeitnehmer, Banker, Politiker, "Verantwortlicher", Vorsitzender, Experte,
Großhändler, Projektleiter, Auftraggeber und so fort.
Mit welchem dieser Begriffe wäre denn eine imaginäre Frau Mustermann beschrieben? Ganz offensichtlich mit keinem einzigen.
Denn sie vereinigt sehr viele davon auf sich je nach Situation und Blickwinkel. Diese Begriffe beschreiben lediglich
einzelne Funktionen - und sind damit ein spezieller Teilaspekt des Menschen ähnlich den Geweben und Zellen unter dem Mikroskop.
Ein Verbraucher/Konsument/Nachfrager/Kunde/Käufer kauft etwas von einem Verkäufer/Produzent/Anbieter/Hersteller.
Das sind lauter austauschbare Funktionen in einem abstrakten Prozeß. Mit Menschen haben sie nichts zu tun. 
Ein Händler merkt u.U. gar nicht, ob eine Bestellung von einem Menschen oder von einem Computer aufgegeben wird. 
Ja, es ist sogar möglich, dass er das deshalb nicht merken kann, weil er selbst ein Computer ist.
Es geht um Agenten in einer Interaktion - nicht um Menschen.
Es kann auch gar nicht um Menschen gehen, denn dann müßte es eine Vorstellung davon geben, was denn ein Mensch sei.

Wo sind die Menschen geblieben?

Das ist eine wichtige Frage. 
Denn wenn es keine Menschen gibt, dann kann auch nicht für die Menschen produziert werden.
Tatsächlich wird das auch kaum noch. Das Ziel des Wirtschaftens ist nicht das Bedürfnis oder der Nutzen für einen Menschen,
sondern die von konkreten Menschen losgelöste Nachfrage. Dafür ist zwingend Geld notwendig.
Wer zwar ein Bedürfnis hat oder gar in Not lebt, aber kein ausreichendes Geld besitzt, geht leer aus.
Umgekehrt kann sehr viel produziert werden, das wenig Nutzen hat oder nur Luxusbedürfnisse befriedigt, wenn dafür nur 
ausreichend Geld locker gemacht wird.
Wenn es keine Menschen gibt, dann weiß "die Wirtschaft" nicht, für wen sie eigentlich da ist. 
Und Wirtschaftspolitiker wissen es genauso wenig.

Eine häufige Forderung lautet: Die Wirtschaft soll den Menschen dienen und nicht umgekehrt.
Sehr wohl! Doch das kann unsere jetzige Wirtschaftswissenschaft noch nicht leisten. 
Wir brauchen eine Wirtschaftswissenschaft, die eine klare Vorstellung vom Menschen hat.
Eben eine neue Wirtschaftswissenschaft.