Armut

Auszüge und Stichworte des Vortrags zu Workshop 7 „Armut", 5.10.2011 von Christoph Schwager

Heute geht es um das Thema Armut. Das heutige Gespräch kann naturgemäß keine erschöpfende Betrachtung sein, dafür ist das Thema viel zu groß und wird in der Wissenschaft kontrovers und breit diskutiert.
Ich möchte aber einige eigene Gedanken dazu vortragen und mit Ihnen diskutieren.

Was ist Armut

Armut bezieht sich meist auf materielle Güter und Bedingungen. In einem weiteren Sinne kann sie sich auf viele Dinge mehr beziehen wie z.B. Beziehung, Bildung usw.
Ich möchte mich heute weitgehend auf materielle Armut beschränken.
Wir benötigen für ein gutes Leben verschiedene Güter und Dienstleistungen. Trotzdem wird Armut meist mit Bezug auf Geld ausgedrückt. Damit ergeben sich definitorische Probleme:
Ausdruck in Geld zielt auf eine Marktwirtschaft, in der alle wichtigen Ressourcen gekauft werden. Abhängigkeiten/Machtverhältnisse, Zugang zu Land oder Wasser, usw. werden ausgeblendet.

Warenkorb: der zum Vergleich herangezogene Warenkorb ist zwangsläufig unzureichend: in jeder Kultur und Lebensumgebung ist ein anderer Warenkorb typisch für das Leben und Bedürfnisse. Dann ist aber kein Vergleich mehr möglich.

Die absolute Armutsgrenze ist bestimmt als Einkommens- oder Ausgabenniveau, unter dem sich die Menschen eine erforderliche Ernährung und lebenswichtige Bedarfsartikel des täglichen Lebens nicht mehr leisten können. Die Weltbank sieht Menschen, die weniger als 1,25 PPP-US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, als „arm“ an. Betteln und Hunger(-tod) gehen somit unmittelbar mit dem Begriff der absoluten Armut einher.
Unter relativer Armut versteht man eine Unterversorgung an materiellen und immateriellen Gütern und eine Beschränkung der Lebenschancen, und zwar im Vergleich zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft. Wer relativ arm ist, hat deutlich weniger als die meisten anderen. Sein Einkommen reicht in vielen Fällen nicht aus, um ein annehmbares Leben zu führen.
So gilt zum Beispiel in Deutschland als relativ arm, wer maximal 50% des Durchschnittseinkommens einer Bevölkerungsgruppe zur Verfügung hat.

Laut Statistischem Bundesamt lag in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2001 die relative Armutsgrenze bei 730 € (alte Bundesländer) bzw. bei 605 € (neue Bundesländer) pro Monat). 2009 lag die relative Armutsgrenze deutschlandweit bei 884,29 €.

Verbreitung von Armut

Nach Angaben der Weltbank hatten im Jahr 2001 weltweit ca. 1,1 Mrd. Menschen (entspricht 21 % der Weltbevölkerung) weniger als 1 US-Dollar in lokaler Kaufkraft pro Tag zur Verfügung und galten damit als extrem arm.
Die größte Zahl dieser Menschen lebt in Asien; in Afrika ist allerdings der Anteil der Armen an der Bevölkerung noch höher.
Zieht man die Armutsgrenze bei zwei US-Dollar pro Tag, gelten insgesamt 2,7 Milliarden Menschen und damit fast die Hälfte der Weltbevölkerung als arm.

Nach einer Studie vom Februar 2010 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wies Deutschland im Jahr 2008 "eine deutlich höhere relative Einkommensarmut als noch vor zehn Jahren" auf. Rund 11,5 Millionen Menschen lagen mit ihrem verfügbaren Einkommen unter der Armutsgrenze. Dies entspricht rund 14% der deutschen Bevölkerung. Das sind 4% mehr als noch vor 10 Jahren. Besonders gefährdet sind dabei Haushalte mit Kindern – vor allem Alleinerziehende – und junge Erwachsene.

Ursachen

Einige Beispiele für diskutierte Ursachen sind folgende:

Ich möchte darauf nicht im einzelnen eingehen, sondern das Problem viel grundsätzlicher betrachten. Es wird deutlich, daß die hier genannten Aspekte etwas gemeinsam haben.

Verteilungsproblem

Es wird heute so viel produziert, wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Die Produktivität nimmt von Jahr zu Jahr zu, so dass ein Arbeiter viel mehr schaffen kann als früher.
Die Regale quellen über (nicht selten auch mit Produkten, die eher als unnütz oder gar schädlich eingeschätzt werden könnten). Es werden – trotz des Hungers woanders – mehr Lebensmittel erzeugt, als wir benötigen.
Rein rechnerisch könnten alle Menschen problemlos versorgt werden mit allen materiellen Gütern, die sie brauchen. Wir leben nicht im Mangel, wie uns gern suggeriert wird.
An zu geringer Gesamt-Produktion liegt es also nicht. Woran sonst?

Armut ist primär ein Verteilungsproblem – zumindest in Gesellschaften, die keine Subsistenzwirtschaft betreiben (=Selbstversorger). In Gesellschaften, die Produkte und Dienstleistungen kaufen bzw. verkaufen, ist der „Markt“ der zentrale Mechanismus der Verteilung von realen Gütern. Wenn die materiellen Bedürfnisse von Menschen nicht gedeckt werden, obwohl die Güter vorhanden sind, dann hat die Verteilung des Marktes nicht funktioniert – und das ist leider häufig der Fall.
Das liegt daran, daß es gar nicht die Absicht der Marktteilnehmer ist, die Bedürfnisse von anderen Menschen zu decken. Die Absicht der Marktteilnehmer ist es vielmehr, die eigenen Interessen durchzusetzen, also meist Profit zu machen. (Eine gewisse Verteilungswirkung des Marktes findet de facto statt, aber eher als Nebeneffekt und nicht als zentraler Zweck. )

Natürlich sind die Käufe auf dem Markt durch Geld vermittelt. Damit stellt sich die Frage nach der Verfügbarkeit von Geld. Für Geld gilt im Prinzip das gleiche, nur daß hier vom Arbeitsmarkt die Rede ist.

Wenn der Markt selbst keine angemessene Verteilung schaffen kann, muß eine andere Instanz das übernehmen, und das ist normalerweise der Staat mit seinen Gesetzen, Infrastruktur und Randbedingungen.

Die Kombination von Markt und sozial korrigierendem Staat heißt bei uns „Soziale Marktwirtschaft“. Ich zeige Ihnen ein Beispiel von Verteilung, die sich unter der Sozialen Marktwirtschaft herausgebildet hat: die Vermögensverteilung in Deutschland 2007.

Die starke Vermögenskonzentration zeigt sich auch darin, dass im Jahr 2007 die reichsten 5 % der Bevölkerung 46 % besaßen, das reichste Prozent bereits 23 %

Eine solche Verteilung ist nicht nur in Deutschland zu beobachten, sondern weltweit, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: nationaler oder zwischenstaatlicher, häufig sogar regionaler. Ungleichverteilung gibt es auch in sektoraler Hinsicht (Beispiel: Finanzbranche) oder geschlechtsspezifischer usw.

Ungleichverteilung kann statistisch z.B. durch den Gini-Koeffizient erfaßt und abgebildet werden.
Jahr 2000 betrug der Gini-Koeffizient weltweit 0,892. Dieser Ungleichheitswert bedeutet beispielsweise, daß von 10 Personen eine Person 99 % besitzt, während die anderen 9 Personen sich das übrige Prozent teilen.
Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besaß 40 % des Weltvermögens. Die reichsten 10 % besaßen zusammen 85 % des Weltvermögens. Im Gegensatz dazu besaßen die ärmeren 50 % der Weltbevölkerung zusammen nur 1 % des weltweiten Vermögens.

Bei der Einkommensverteilung ist es zwar glücklicherweise längst nicht so kraß, aber tendenziell doch ähnlich.

Arten der Teilung

Es geht also um Teilen.
Beim Erntedankgottesdienst haben wir gehört vom Abgeben und teilen mit anderen Menschen.
Mit anderen Menschen teilen kann unter caritativem Aspekt verstanden werden. D.h. ich gebe etwas von mir ab aus freien Stücken. Ich setze selbst fest, was, wieviel und wem ich etwas gebe. Ich bin darüber niemandem Rechenschaft schuldig und es gelten keine von außen gesetzte Regeln dafür. Ich kann es auch sein lassen. Dieser Ansatz bezieht sich also auf Almosen.
Doch Almosen haben auch eine problematische Seite, denn sie manifestieren eine unterschiedliche Position: der Geber hat tendenziell einen höheren, besseren Stand als der Empfänger. Die Menschen begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Der Geber kann sich eines guten Images sicher sein, der Empfänger keineswegs. Der Geber hat das Gefühl, er hätte etwas Gutes getan, womöglich ausreichend Gutes getan, so daß keine weitere Aktion mehr nötig ist. So wird das Problem der Armut nicht grundsätzlich angegangen. Es kann sogar sein, daß ein Almosen sogar die Armut zementiert. Sie wird nur punktuell, spontan gelindert. Der Empfänger hat keinen Anspruch auf ein besseres Leben, er kann nicht dauerhaft mit dem Almosen rechnen, sondern eben nur punktuell und unter Bedingungen. Die Zukunftsperspektiven haben sich nicht geändert.

Es wird nicht hinterfragt, warum jemand arm ist – und auch nicht, warum andere reich sind. Dabei liegt ein enger Zusammenhang nahe. Und damit sind wir bei strukturellen Ansätzen.
Strukturell bedeutet, daß ein einzelner Mensch – von Ausnahmen abgesehen – sich nicht selbst aus der Armut befreien kann, weil die Verhältnisse es erschweren oder gar verhindern. Umgekehrt kann ein Almosen ebensowenig die Verhältnisse ändern und damit die grundsätzliche Armut beseitigen. Es kann nur ein akutes Symptom lindern.
Einige Beispiele für strukturelle Probleme:

Ein wichtiger Mechanismus ist der Zins. (Erläuterung fehlt hier - nur mündlich...)
Auch hier gilt: wer viel hat, bekommt leicht noch viel dazu. Die anderen zahlen drauf.

Diese Beispiele und obige Graphik zeigen: Es gibt eine Umverteilung, aber leider in die falsche Richtung, nämlich von unten nach oben.

Leistungsbegriff

Diese Richtung müßte umgekehrt werden.
Nun werden es manche als ungerecht empfinden, wenn sie von ihrem "rechtmäßig Erworbenen" für potentielle "Faulenzer" aufkommen sollen, sie, die eigene Leistungen erbringen, für jene, die nichts leisten.
Damit sind wir beim Begriff der Leistungsgesellschaft und Leistungsgerechtigkeit. Ich hatte dazu mal einen Artikel geschrieben, aus dem ich zitieren möchte:

Leistung hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Leistung ist etwas Positives, wer etwas leistet, ist gut angesehen. Und umgekehrt haben diejenigen ein schlechtes Image, die angeblich nichts oder wenig leisten. Häufig wird davon gesprochen, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben.
Lt. Wikipedia wird darunter Folgendes verstanden:

"Leistungsgesellschaft ist die Modellvorstellung einer Gesellschaft, in welcher die Verteilung angestrebter Güter wie Macht, Einkommen, Prestige und Vermögen entsprechend der besonderen Leistung erfolgt, die einem jeden Gesellschaftsmitglied jeweils zugerechnet wird. […] Vorausgesetzt wird dabei […], dass der erwirtschaftete (zusätzliche) Nutzen Einzelpersonen bzw. deren persönlichem Einsatz eindeutig zugerechnet werden kann. […]
Soziale Schichtung und Herrschaft werden dadurch legitimiert, dass die so bevorzugten sogenannten 'Leistungsträger' ihre sozialen Vorteile durch eigene Leistungen verdient haben sollen."
(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Leistungsgesellschaft, abgerufen am 24.8.2011)

Der Begriff der Leistungsgesellschaft ist aber auch hoch problematisch. Er setzt stillschweigend voraus, dass alle wissen, worin eine konkrete Leistung besteht, was sie wert ist und wem sie zugerechnet werden soll. Das ist aber keineswegs der Fall. Wir wissen eben meistens nicht, worin eine Leistung konkret besteht, was sie wert ist und wem sie warum zugerechnet werden soll.
Wie viel ist die Zuwendung einer Mutter wert? Worin besteht die konkrete Leistung eines - sagen wir mal - Abteilungsleiters?
Wie kann Leistung überhaupt gemessen werden? Ist eine Leistung immer positiv oder nicht auch manchmal schädlich (z. B. in der Rüstungsindustrie oder der Gentechnik)? Wie ist eine Leistung abzugrenzen, d.h. welche Folgen einer Handlung sind dem Handelnden zuzurechnen?
Die sogenannten Leistungsträger sind längst nicht immer auch diejenigen, die eine Leistung erbringen. Wenn man nach den Leistungsträgern in einer großen Firma fragt, denkt man selten an die einfachen Mitarbeiter.
Viel häufiger ist also der umgekehrte Fall: Weil jemand viel Geld erhält (das Wort verdienen wird hier bewusst vermieden), unterstellen wir ihm eine große Leistung. Leistungsträger werden an ihrem Bankkonto und nicht an ihrer Leistung erkannt.

Der Erwerb und die Akkumulation von Reichtümern beruhen auf natürlichen und vielen gesellschaftlichen Voraussetzungen.
Die natürlichen Grundlagen sind der gesamten Menschheit gegeben. Darüber hinaus: Veränderte Natur, also z. B. Nutzpflanzen und -tiere sind von unzähligen Menschen und Kulturen gezüchtet worden. Allgemeine Zivilisationstechniken und kulturelle Fähigkeiten sind über Jahrhunderte gewachsen. Viele Gesellschaften und noch mehr Generationen haben gearbeitet und bewirkt, dass die heutigen Möglichkeiten des Erwerbs überhaupt existieren. Dazu gehören z. B. das Rechtswesen, die staatliche Infrastruktur, das Geldwesen, eine politische Kultur, die Privateigentum und Zinsen grundsätzlich akzeptiert, Handelsstrukturen, gemeinsame Grundlagen von Werten, Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und vieles mehr. Das alles ist keineswegs selbstverständlich!
Unzähligen Wissenschaftlern und Ingenieuren ist es beispielsweise zu verdanken, dass uns Maschinen heute viel Arbeit abnehmen können. Ein gewachsenes Rechtswesen und die Verwaltung haben wichtige Grundlagen für geschäftlichen Austausch gelegt. Hinzu kommt, was wir uns an Vorteilen aus anderen Ländern verschafft haben und uns noch verschaffen.
Das alles ist eine historische Gemeinschaftsleistung, deren Nutzen auch der Gemeinschaft zugute kommen muss, indem alle vom Ertrag profitieren und weniger arbeiten müssen. Teilhabe an diesem gesellschaftlich erzeugten Reichtum ermöglicht auch ein bedingungsloses Grundeinkommen, das man in diesem Zusammenhang als eine „historische Dividende“ verstehen kann – oder im Zusammenhang mit der allen gehörigen Natur, eine "Naturdividende" Es gibt in der heutigen Wirtschaft praktisch keine rein "eigene Leistung" mehr! Wenn ich etwas als meine eigene Leistung für mich reklamiere, so heißt das oft, den Anteil anderer Menschen zu unterschlagen.
Die sogenannte Leistungsgerechtigkeit ist sehr oft nur ein Schönsprech für große Ungerechtigkeiten. Es ist vermessen, die heutige - zum Teil skandalöse - Verteilung von materiellen Gütern mit eigener Leistung zu begründen.

alternative Verteilungsmodelle

Auch die Wuppertal-Studie fordert an mehreren Stellen eine Umverteilung von Einkommen, Vermögen, Arbeit, gesellschaftlicher Teilhabe u.a.m..
Doch wie kann Verteilung neu geregelt werden?
Ich möchte dazu drei neue, alternative Beispiele darstellen bzw. kurz nennen (hier nur als Verweis ausgelegt).
Bedingungsloses Grundeinkommen
Gemeinwohl-Ökonomie
Gemeingüter


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